Johann Adam Hiller

Die Jagd oder »Halt´s Maul!«

Eine comische Oper in drey Acten
Leipziger Textfassung
nach dem Original von
Christian Felix Weisse

Aufführungs-KRITIKEN


»ALS ICH AUF MEINER BLEICHE«

Probengespräch

Gott sei Dank, ich bin noch immer Atheist.

Luis Bunuel


Frage: Herr Brühl, der Jubiläumsspielplan der Oper Leipzig birgt manches Unerwartete, viele Überraschungen. Der Laie staunt und die Fachfrau wundert sich. DIE JAGD im Kellertheater des Opernhauses zählt ganz gewiß dazu. Wie kamen Sie an das Werk und wie kamen Sie nach Leipzig?

Brühl: Anfang der neunziger Jahre, in Vorbereitung der Uraufführungs-Produktion der NACHTWACHE (Oper von Jörg Herchet auf eine Dramendichtung von Nelly Sachs) durch Ruth Berghaus, erfuhr ich, daß im Programm der Leipziger Oper DIE JAGD von Johann Adam Hiller erscheinen sollte und war sofort elektrisiert, zumal es noch keinen Regisseur für dieses Werk gab und ich schon immer leidenschaftlich die Musik der Vorklassik liebte. Das Stück war auch mir unbekannt, aber Johann Adam Hiller war mir durch seine LEBENSBESCHREIBUNGEN BERÜHMTER MUSIKGELEHRTEN UND TONKÜNSTLER NEUERER ZEIT und das Reisetagebuch Charles Burneys ein Begriff. Der Chefdramaturg der Leipziger Oper, Dr. Fritz Hennenberg, hatte verdienstvoller Weise das Werk in den Spielplan der Oper genommen, in Vorbereitung der 300-Jahr- Feier, um wieder auf diesen für Leipzig so bedeutenden Komponisten hinzuweisen. Ich setzte mich mit Herrn Dr. Hennenberg in Verbindung und erhielt den Auftrag zur Inszenierung. Dann besuchte ich die Staatsbibliothek in Berlin, sah dort die Erstausgaben der Textbücher von Weisse ein, auch ein Reprint der dort aufbewahrten handschriftlichen Kopie der Hillerschen Partitur (die im Original nicht erhalten ist, ebensowenig wie eine gedruckte Ausgabe).

In Gefahr und höchster Not
bringt der Mittelweg den Tod.

Alexander Kluge


Frage: Es war doch sicher eine große Schwierigkeit, eine Partitur ohne genau fixierte Interpretationsangaben, wie bis Ende des 18. Jahrhunderts üblich, heute wieder spielfähig zu machen?

Brühl: Natürlich war es, was mich betrifft so, daß ich mit den Textbüchern mehr als mit diesen Kopien anfangen konnte, weil allein schon das Schriftbild für uns große Schwierigkeiten birgt. Dafür gibt es zum Glück Spezialisten. Der Dirigent, Julien Salemkour, hat sich gründlich mit dem Reprint auseinandergesetzt und die Stimmen selbst erstellt. Aufgrund der in den letzten Jahrzehnten fruchtbar gewordenen Renaissance Alter Musik wußte er, wie so etwas zu entziffern und auch zu musizieren ist. Auf jeden Fall waren wir uns sofort einig, daß das Stück unbedingt auf historischen Instrumenten zu spielen sei, und er hat unter Mißachtung aller Hindernisse in kürzester Zeit hier in Leipzig ein eigenes Ensemble aufgebaut, »Les Partisans de la Musique Galante«. All das, was ich an Musik dieser Zeit kenne, gleitet mit konventionellem Instrumentarium sehr schnell ins Läppische oder Langweilige ab. Demgegenüber entfaltet diese Musik ihre Reize gerade beim Spiel auf historischen Instrumenten und gibt dann erst in besonders aufregender Weise ihre ganzen Geheimnisse und Schönheiten preis.

Ich will doch nur, daß ihr mich liebt.

Rainer Werner Fassbinder


Frage: Nun ist es ja üblich, daß Stücke dieser Zeit und Art, wenn sie denn aufgeführt werden, in der dramaturgischen Struktur, im Text Änderungen erfahren. Es gibt auch eine Bearbeitung dieser Oper von Lortzing. Lortzing hat damals den Text weitgehend beibehalten und das Werk nur musikalisch auf die Klangvorstellungen des 19. Jahrhunderts zugeschnitten - umharmonisiert, uminstrumentiert, die Ouvertüre, Zwischenaktmusiken und anderes hinzukomponiert. In welcher Form wird das Werk jetzt gespielt?

Brühl: Julien Salemkour hat sich natürlich mit der Lortzingschen Bearbeitung auseinandergesetzt. (Lortzing spielte übrigens selbst den Töffel.) Wir kamen zum Schluß, auf jeden Fall das musikalische Original zum Klingen zu bringen. Es gibt eine Textfassung von 1915, die in einer der historischen Aufführungen in der Semperoper verwendet wurde. Auch mit ihr haben wir uns beschäftigt. Ich konnte mich mit ihr ebenfalls nicht anfreunden, obwohl diese Textfassung ein Ziel erreicht hatte, daß mir selbst vorschwebte: Den Ton der Vorlage beibehaltend, eine klare, übersichtliche, leicht spielbare, dynamische Form zu finden. Der Originaltext ist in seiner Sprache, in seinem dramatischen Aufbau von einer Art, die so veraltet und überholt ist, daß es uns heute sogar schwerfällt, ihn überhaupt zu lesen. Es stand also von vornherein fest, daß eine genaue Bearbeitung hergestellt werden muß.

Ich bin ein Kind und weiß nicht, was ich singe.

Richard Wagner


Frage: Dafür gibt es ja verschiedene Möglichkeiten, zum Beispiel eine absolute Modernisierung des Textes, die die Musik dann anachronistisch erscheinen läßt, oder eine dramaturgische Neugliederung, die den Ton des Werkes heutigem dramatischen Verständnis anpaßt.

Brühl: Wir haben uns letztlich für die zweite Variante entschieden. Das Stück wurde umgeschrieben und teilweise in der Dramaturgie verändert, behutsam gekürzt und Musiknummern umgestellt, einige Nebenpersonen sind gestrichen und die Intrige gestrafft. Auch während der Proben wurde noch geändert. Letztlich ließen wir uns sogar einfallen, der Atmosphäre des Stücks entsprechend, fast zu jedem Abgang einer Figur nonsenshafte Knittelverse zu erfinden, mit denen die Szenen enden.

Davon ist mir bisher nichts bekannt.

Harry Kupfer


Frage: Das betrifft aber die gesprochenen Texte und nicht die Musik?

Brühl: Das betrifft ausschließlich die Dialoge. Die Texte der Gesangsnummern wurden prinzipiell nicht angetastet. Wir wollten am Ende eine Form erreichen, der man beim ersten unbefangenen Begegnen nicht anmerkt, daß es sich um eine Bearbeitung handelt. Es gibt Formulierungen, die jeder für Weisse halten würde, die aber von mir stammen.

Oh Wildnis oh Schutz vor ihr.

Elfriede Jelinek


(...)

Frage: Sie haben aber nicht nur gestrichen, sondern auch ergänzt.


Brühl: Da Telemann vor 300 Jahren am Leipziger Opernhaus wirkte, haben wir anachronistischerweise der Hauptfigur Rösie eine Koloraturarie aus dessen in Leipzig aufgeführter DAMON-0per eingebaut. Diese Arie fanden wir im Telemann-Archiv in Magdeburg. Das ist einfach eine Reverenz, die wir anläßlich des 300jährigen Jubiläums diesem illustren Komponisten erweisen.

Ich verfalle auf wilde Spekulationen.

Heiner Müller


Frage: Wie weit handelt es sich denn jetzt noch um das Werk von Hiller/Weisse, und wie weit um eine frei Bearbeitung von Brühl und anderen?

Brühl: Man kann auf jeden Fall sagen, daß diese Leipziger Textfassung eine eigene Stückvariante ist. Wie wir auch im Titel des Stücks zum Ausdruck bringen: DIE JAGD oder HALTS MAUL. Die ursprüngliche Stückgestalt, das ist mein Blick darauf, ist so, mit dem Orginaldialog, völlig unspielbar. Die Musik ist natürlich perfekt, reizvoll und aufführenswert.

Und was bedeutet das für mich?

Anais Nin


Frage: Ich möchte Sie lieber fragen, wie Sie die Bretter des doch räumlich sehr beengten Kellertheaters zum Brennen bringen wollen? Könnte man sagen, die MUPPETS SHOW findet ab nun im Kellertheater statt?

Brühl: (lacht) Die Frage wird nicht beantwortet.

Ich liebe Verdi.
Na ja, mein Gott, welcher Esel nicht.

Gottfried von Einem


Frage: Könnte man sagen: die AUGSBURGER PUPPENKISTE im Leipziger Kellertheater?

Brühl: Dasselbe wie eben. Doch ist einer der vermutlich wichtigsten Einflüsse für meine Inszenierungsarbeit in der JAGD neben dem Genannten schon das Kasperletheater. Zum Beispiel der famose Berliner Puppenspieler Hans Jochen Menzel mit seinen Kleist-Stücken und Grimm-Märchen. Das ist für mich ganz ernstzunehmendes Theater! Schließlich fordert auch ein Werk wie DIE JAGD, die musikalische Gestaltung von Hiller, trotz aller volkstümlichen Klamotte Respekt, da sie mit Sinn für die Konkretheit der Situationen, mit Genauigkeit auf die Figuren hin gearbeitet ist. Dies ist von so hoher theatralischer Qualität, daß man dem gewissenhaft entsprechen muß.

Das Ganze: unterhaltsam, apart, originell, ein Dokument eines schöpferisch fruchtbar gewordenen Widerspruchsgeistes (die Betonung liegt durchweg auf dem zweiten Wort!).

Josef Rufer


Frage: Aber dem deutschen Singspiel wird im allgemeinen vorgeworfen, daß es die Dinge verniedlicht, verkleinert, Standesunterschiede verwischt. Das Singspiel - Rousseau - die Verklärung des Lebens auf dem Lande - all dies finden wir in der JAGD auch, und wir finden natürlich auch das traute Miteinander all der verschiedenen kleinbürgerlichen Gruppen mit dem König, mit dem Adel. Gilt der Vorwurf der Idyllisierung, der Verniedlichung nicht auch für diese Figuren?

Brühl: Im Prinzip ja. Es ist natürlich so, daß man ein solches Stück aus seiner Zeit heraus verstehen muß. Hiller hat nun einmal vor Mozart gewirkt... Es ist schon sehr interessant, wie Hiller gerade in seinen Singspielen Merkmale der französischen Opera comique und auch der italienischen Opera seria in seiner Musik kopiert. Das Problem der Idyllisierung der Standesbefindlichkeit und des Lebens auf dem Lande ist die Crux bei diesen Singspielen. Wir versuchten dennoch, die Geschichte auf direkte und amüsante Weise zu erzählen, ohne die Figuren denunziatorisch noch mehr zu verkleinern. Sowas mag ich nicht.

Frage: Seit Freud, spätestens seit Woody Allen wissen wir Bescheid über die tief erotische Triebstruktur des Lachens. Das Singspiel lebt natürlich auch von diesem Phänomen ...


... Fortsetzung des Gesprächs



Aus:

Leipziger Opernblätter
Spielzeit 1992/93 * Heft 15

Herausgegeben von der Dramaturgie
Chefdramaturg Dr. habil. Fritz Hennenberg

Johann Adam Hiller
DIE JAGD
Festspielzeit 300 Jahre Leipziger Oper

OPER LEIPZIG
Intendant Prof. Udo Zimmermann