Die kollektive Form des absurden Verhaltens
ist wohl die gefährlichste,
weil die Absurdität niemandem mehr auffällt und
weil sie als "Normalität" sanktioniert wird.
Es war für die meisten Nachkriegskinder
in Deutschland selbstverständlich, daß es
unanständig oder zumindest unangebracht sei,
den Eltern zu genaue Fragen über die Wirklichkeit
des Dritten Reiches zu stellen;
oft war es sogar regelrecht verboten.
Das Verschweigen dieser Zeit, d.h.
auch der elterlichen Vergangenheit, gehörte
genauso zu den gewünschten "guten Manieren"
wie die Verleugnung der Sexualität
um die Jahrhundertwende.
Aus der Geschichte des Dritten Reiches
konnten wir u.a. lernen, daß
das Ungeheuerliche nicht selten gerade
im "Normalen", in dem von der großen Mehrheit
als "ganz normal und selbstverständlich"
Empfundenen liegt.
ALICE MILLER, 1980: IM ANFANG WAR ERZIEHUNG



N) „DIE BERÜHMTESTE FUSSNOTE DER KULTURGESCHICHTE“ (Martin Dannecker)*:

»(…)
Die psychoanalytische Forschung widersetzt sich mit aller Entschiedenheit dem Versuche,
die Homosexuellen als eine besonders geartete Gruppe von den anderen Menschen abzutrennen.
Indem sie auch andere als die manifest kundgegebenen Sexualerregungen studiert,
erfährt sie, dass alle Menschen der gleichgeschlechtlichen Objektwahl fähig sind
und dieselbe auch im Unbewussten vollzogen haben.

(…)«

Sigmund FREUD: DREI ABHANDLUNGEN ZUR SEXUALTHEORIE, 3. Aufl. (Deuticke) Leipzig/Wien 1915.
I. Die sexuellen Abirrungen, Anm. 5 (in der vermehrten Auflage von 1915 neu hinzugefügt)



„Freud hat die Zahl der Bisexuellen auf 100% geschätzt.
Seitdem ist sie ständig gestiegen.”

GUNTER SCHMIDT

"Die Verabsolutierung der Heterosexualität bei der Mehrheit hat
die Verabsolutierung der Homosexualität bei einer Minderheit zur Folge.
Konzeptionen, die allein auf Integration einer besonderen Minderheit
in die Gesellschaft zielen, sind deshalb perspektivisch nicht tragfähig.
Gesellschaftlich geht es primär um die Integration der
Homosexualität in die menschliche Sexualität überhaupt.
Dabei ist die soziale Integration der Homosexuellen ein Teilaspekt.
Die vollständige Integration der Homosexualität in die menschliche Sexualität,
die Aufhebung der Polarisierung der Sexualitätsformen, ist die
Aufhebung der Homosexuellen als besonderer 'anders gearteter' Menschengruppe."


(ca. 1988: Interdisziplinäre Arbeitsgruppe "Homosexualität" (IAH) an der Humboldt-Universität Berlin/DDR,
Konzept der Forschung bis 1995, BERT THINIUS in: THINIUS, "Aufbruch...", 1994, S.24.-



Die Vorstellungen über Homosexualität
sind so diffus und von Abwehr bestimmt
(und zwar auch unter den Analytikern selbst),
daß man davon ausgehen muß, der Begriff Homosexualität
löse alles andere eher, denn ein Verständnis aus:
eine Reihe von Vorurteilen, falschen Vorstellungen
und eigener Abwehr setzt sich in Bewegung,
um bei der krampfhaften Sicherheit anzukommen,
daß Homosexuelle auf jeden Fall erstmal die anderen seien:
Fremde, oder sogar Feinde, die einem selbst ganz und
gar nicht gleichen, die man dingfest machen kann.“

KLAUS THEWELEIT:
MÄNNERPHANTASIEN, Frankfurt/Main 1977
Band I: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Kap. 1, S. 63.


„There is no such thing
as a homosexual or a heterosexual person.
There are only homo- or heterosexual acts.
Most people are a mixture of impulses if not practices.”

GORE VIDAL

MARTIN DANNECKER / REIMUT REICHE

DIE KOLLEKTIV VORHERRSCHENDE INTEGRATIONSFORM DER
TRIEBE UND OBJEKTBEZIEHUNGEN

Für die kollektiv vorherrschende Integrationsform der Triebe und Objektbeziehungen, die in unserer Kultur als "normale Heterosexualität" bezeichnet wird, ist die Verdrängung der homosexuellen Strebungen konstitutiv und, als Konsequenz daraus, die unbewußte Angst vor der Homosexualität. Die kulturell vorherrschende Form der Heterosexualität ist notwendig pathologisch. Zu dieser Pathologie gehört u.a. eine gewaltsame Überzeichnung der biologischen Geschlechter-Rollen; gehört eine kulturell ausgestanzte Hypertrophie des genital-sexuellen Bereichs und eine entsprechende gesellschaftlich produzierte Verkümmerung der übrigen, biologisch angelegten erogenen Zonen; gehört eine latent homosexuell gefärbte Identifizierung der Männer untereinander. Diese Identifizierung nimmt als Gefühl und Bewußtsein der Überlegenheit des Mannes über die Frau soziale Gestalt an, schlägt sich in allen Poren ökonomischer und sozialer Herrschaft nieder und befestigt diese. Alle diese "Pathologien" sind konstitutuv für das, was normale heterosexuelle Anpassung heißt. Weil nur die jeweils individuelle Unterordnung unter die herrschende kulturelle Sexualmoral einer geschichtlichen Entwicklungsepoche als "normal" bezeichnet wird, fällt es so schwer, die kollektive Pathologie herauszuarbeiten, in der jede individuelle Normalität gebrochen ist.
(...)

SIGMUND FREUDN hat in seiner Religionskritik die individuelle Zwangsneurose als pathologisches Gegenstück zur kollektiven Religionsbildung dargestellt und "die Neurose als eine individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangsneurose"1 bezeichnet. Die kollektiv-neurotischen Bildungen sind für die von ihnen Betroffenen ebenso "sinnvoll" wie die individuell-neurotischen Symptome für das betreffende Individuum : "Der Schutz gegen neurotische Erkrankung, den die Religion ihren Gläubigen gewährt, erklärt sich leicht daraus, daß sie ihnen den Elternkomplex abnimmt, an dem das Schuldbewußtsein des einzelnen wie der gesamten Menschheit hängt, und ihn für sie erledigt, während der Ungläubige mit dieser Aufgabe allein fertig werden muß."2 An anderer Stelle schreibt FREUD : "Es stimmt auch gut dazu, daß der Frommgläubige in hohem Grade gegen die Gefahr gewisser neurotischer Erkrankungen geschützt ist; die Annahme der allgemeinen Neurose überhebt ihn der Aufgabe, eine persönliche Neurose auszubilden."3 FREUDS Religionskritik ist u.E. ein Kernstück für jede materialistische Psychologie; in ihr ist, gewissermaßen in Keimform, die "andere" psychologische Seite der Ideologiekritik angelegt, deren ökonomische Seite - aus den Produktionsverhältnissen hergeleitete Bestimmung der Ideologie als "notwendig falsches Bewußtsein" - von KARL MARX in der Kritik der politischen Ökonomie herausgearbeitet wurde.

Ideologien könnte man in diesem Sinn als säkularisierte Religionen bezeichnen - Liberalismus des Bürgertums, Antisemitismus des Kleinbürgertums, Ausländerhaß des Proletariats usw. Die Funktion der Ideologie ist es, nach Bewußtsein und Veränderung drängende Bedürfnisse zurückzubiegen und einem "vorbewußten" revolutionären Interesse einen reaktionären Ausdruck zu verleihen. Psychologisch gesprochen sorgt die Ideologie für einen dynamischen Ausgleich zwischen einem Bedürfnis und dem gegen dieses Bedürfnis stehenden gesellschaftlichen Herrschaftsinteresse - auf Kosten des Bedürfnisses. Die Ideologiebildung ist darin dem Mechanismus der Neurosenbildung sehr ähnlich, und zwar nicht nur strukturell, sondern auch im engeren Sinn triebdynamisch ähnlich. Das individuelle neurotische Symptom sorgt für einen dynamischen Ausgleich zwischen Verdrängtem und zu Verdrängendem, bzw. zwischen Trieb und Moral (gesellschaftlich herrschendem Realitätsprinzip) - auf Kosten des Triebs. Wie das neurotische Symptom seinem Träger auf Umwegen, im Ausagieren der Symtomhandlung, einige Befriedigung verschafft, wenn auch nicht die ursprünglich angestrebte - so schafft auch die Ideologie den an sie gebundenen Massen auf Umwegen eine vom realen Bedürfnis zielabgelenkte Befriedigung. Eine Ideologie ist, auch darin dem neurotischen Symptom vergleichbar, nur solange und nur dort "durchschlagskräftig", wo sie die nach Entladung drängenden Affekte bzw. die nach Erfüllung drängenden Bedürfnisse zugleich anspricht, bindet - und auf eine "falsche" Fährte lenkt. Aus solchen - auf begriffliche Zusammenfassung wartenden Gründen kann man eine herrschende Ideologie auch als kollektive Neurose bezeichnen, wenn man die psychische und massenpsychologische Seite des betreffenden Geschehens kennzeichnen möchte.

Von der neueren - aus der Optik der psychoanalytischen Theorie revisionistischen - Sozial- und Ich-Psychologie ist die Dimension, die in dieser Religionskritik angelegt ist, reaktionär zurückgebogen worden. Z.B. sprechen BETTELHEIM und JANOWITZ ganz affirmativ von der "identitätsstiftenden Funktion des Vorurteils". Rassismus oder militanter Antikommunismus, einmal aus ihrem privaten Dasein als paranoide Wahnvorstellungen herausgenommen und zur allgemeinen Ideologie und zur Praxis der Herrschenden geworden, können in konsequenter Anwendung solcher Theorien nicht mehr als pathologisch, sondern müssen als normal, ja mehr : als identitätsstiftendes, Anpassung förderndes Verhalten beschrieben werden.4 Orthodoxe, psychoanalytische Theorien mit "Normalitäts"-Konzepten, wie sie den Arbeiten von BIEBER, SOCARIDES u.a. zugrunde liegen, befinden sich in unerkannter und gefährlicher Nähe zu derart reaktionären Anpassungs-Konzeptionen. Zur Konstitution der normalen Heterosexualität der gegenwärtigen gesellschaftlichen Epoche gehört unabdingbar die Verdrängung homosexueller Gefühlsregungen als Homosexuellen-Haß, die Bindungen dieser Gefühlsregungen in latent homosexuellen Massenbildungen usw. Zum Konstitutionsprozeß der kulturell normalen Heterosexualität gehören unabdingbar kollektiv- neurotische Momente. Weil sie kollektiv vorherrschen und weil sie unabdingbar für den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang (mindestens den der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaften) sind, geraten diese kollektiv-neurotischen Elemente auch der psychoanalytischen Orthodoxie zunehmend aus dem Blick; schließlich sind sie - in moderner sozialpsychologischer Diktion - anpassungsfördernd.

aus: DER GEWÖHNLICHE HOMOSEXUELLE
S. FISCHER VERLAG, Frankfurt/Main 1974, S. 348-350
ISBN 3100148010




"Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind keine natürlichen, instinktiven Reaktionen menschlicher Wesen,
sondern in der Geschichte menschlicher Gesellschaften kulturelle und politische Phänomene,
die durch Kriege, militärische Eroberungen, Sklaverei
und die individuelle oder kollektive Ausbeutung der Schwächsten durch die Stärksten entstanden."
FIDEL CASTRO




*) M. DANNECKER: Die Dekonstruktion der sexuellen Normalität in den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (2006)

1 S. FREUD : Zwangshandlungen und Religionsübungen, Ges. Werke, Frankf/M, 1963, VII, S.139

2 S. FREUD : Eine Kindheitserinnerung des Lionardo da Vinci, Ges. Werke, VIII, S.195

3 S. FREUD : Die Zukunft einer Illusion, Ges. Werke, XIV, S.367 (Hervorhebung durch uns).

4 Zur Darstellung und Kritik dieses Komplexes siehe KLAUS HORN : Insgeheime kultische Tendenzen der modernen psychoanalytischen Orthodoxie, S. 108 f. In: Psychoanalyse als Sozialwissenschaft, Frankf/M 1971



siehe auch
CHRONOLOGIE DER DDR-SCHWULENBEWEGUNG :
www.olafbruehl.de/chronik.htm

zu ...MÄNNER & FRAUEN...

über Olaf Brühl

zur ArtikelSERIE:
»Die Scham, dass einem das Hinsehen so leicht fällt«

(Mecklenb. Kirchenzeitung 1985)

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