Zur Erhellung der GESCHICHTE DER HOMOSEXUALITÄT(EN) sind in den letzten dreißig Jahren erstaunliche Leistungen erbracht worden. Einige davon als »klassisch« zu bezeichnende
Werke sind kaum oder gar nicht mehr zu haben. Im ghettoisiert schwulen »Selbstbewusstsein«
spielen sie eh keine Rolle.
ERNEST
BORNEMANNS PATRIARCHAT (1975) beispielsweise ist seit Jahren nicht mehr erhältlich; es wird nicht einmal mehr in jenem Katalog mit dem recht willkürlichen Titel
100 JAHRE SCHWULENBEWEGUNG (1997) genannt
DER GEWÖHNLICHE HOMOSEXUELLE (1974) mag, statistisch gesehen, gewiss in einigem längst
durch die gesellschaftlichen Errungenschaften der Frauen-, Lesben- und Schwulenbewegungen
überholt sein. Doch enthält dieser Text von MARTIN DANNECKER und REIMUT REICHE Passagen, etwa
über Normalitätskonzepte, Heterosexualität als kollektive Neurose und die identifikationsfördernde
Rolle der Vorurteile (z.B. S. 348-350), die in jeder Anthologie einen Platz für ihre
gesellschaftsanalytische Brillanz beanspruchen und bis heute an Gültigkeit nichts zu wünschen übrig
lassen! Auch GISELA BLEIBTREU-EHRENBERGS Standardwerk TABU HOMOSEXUALITÄT. DIE
GESCHICHTE EINES VORURTEILS (1978), eine subtile wissenschaftliche Gesamtschau zur Kultur-
und Rechtsgeschichte seit den Germanen, blieb im o.g. Katalog unerwähnt. Die Autorin beschreibt
vor allem, wie aus machtpolitischen Interessen durch Dokumentenfälschung juristisch der Boden
für Diskriminierung und Repression bereitet wurde, die, weitergeschleppt, verfälscht und
ausgebaut, noch im Faschismus wirken. Das Buch gibt so nicht zuletzt eine Geschichte des
deutschen § 175 - und damit unserer Gesetzesfindung - und räumt mit vielen, v.a. antiklerikalen
Geschichtsklischees auf. Da BLEIBTREU-EHRENBERG ihre Quellen sehr genau darlegt, eröffnet
sie einen schwindelerregenden Einblick in die Voraussetzungen einer tragischen, Jahrhunderte
währenden und dennoch nach wie vor brisanten Entwicklung. Unglaublich, dass selbst
Rechtsinteressierte (von Akademikern - und gar erst lesbischschwulen JournalistInnen - ganz zu
schweigen) dieses Buch nicht kennen - die ignoranzfördernde Funktion kollektiver Vorurteile?
Ähnlich beeindruckend sind Sorgfalt und Reichhaltigkeit des Opus magnum des Essener
Professors PAUL DERKS, das mit dem zwar schönen, aber
etwas irritierenden Titel DIE SCHANDE DER HEILIGEN PÄDERASTIE 1990 in der Bibliothek rosa
Winkel erschien. Fulminante Aufschlüsse über das Kulturverständnis unserer bürgerlichen Ideologie. Mit einem noch die verdecktesten Zusammenhänge aufspürenden
Scharfblick und Engagement stellt PAUL DERKS die Behandlung homosexueller Motive in der
deutschsprachigen Dichtung und Literatur von 1750 bis 1850 in Einzelstudien dar:
und präsentiert damit ein politisch ebenso präzises, wie symptomatisches Kulturpanorama.
Das Buch ergänzt und
kritisiert seinen berühmten Auslöser, HANS MEYERS AUSSENSEITER (1975), glänzend, füllt es doch
dessen Leerstellen und zwar mit kompromissloser Formulierungsschärfe.
Dieser mehr als »nur
literaturgeschichtlich« relevanten Zeitreise von DERKS ist nun eine ganz andere
Vergangenheitsrecherche gefolgt, die den anschließenden Zeitraum von 1850 bis 1970 untersucht,
und zwar unter dem Aspekt der Psychiater, Kriminalpsychologen und Gerichtsmediziner. Speziell
männliche Homosexualität betreffend, wie anders? Auch die Wechsel der jeweiligen Fachbereiche:
Soziologie, Gesetzesgeschichte, Literaturgeschichte, nun Geschichte der Psychiatrie und Forensik,
sind durchaus beredt für die gesamtgesellschaftlichen Paradigmen der Wahrnehmung von
»Homosexualität« in unserer zutiefst antifemininen Zivilisationsgeschichte.
Der junge Historiker
FLORIAN MILDENBERGER ist Autor des neuerschienenen Bandes innerhalb der Bibliothek rosa Winkel:
...IN DER RICHTUNG DER HOMOSEXUALITÄT VERDORBEN, Nr.1 der Sonderreihe Wissenschaft,
bei MännerschwarmScript 2002, herausgegeben von WOLFRAM SETZ. Nun geht es diesmal nicht um
Kaiser und Mönche, um Dokumente und Gesetze oder um WINCKELMANN und BETTINA VON ARNIM,
Gedichte und Briefe, sondern um Forschungstheorien, Ärzte, Therapieexperimente und Gutachter
im Dunstkreis der deutschen Irrenanstalten, Polizeireviere und Gerichtssäle. Es geht auch um das,
was all das Interesse auf eine untergründige Weise doppelt motiviert: um Unrecht, Verbrechen und
deren Wegbereitung im Dritten Reich...
Auch wenn man kein Kenner des Gebietes ist, liest
sich der Text doch keineswegs mühsam. Dazu sind die Vorgänge zu interessant, zu politisch,
dazu sind sie auch zu nah an der eigenen Gefährdung. Wir alle haben noch in Staaten gelebt, in
denen die Homosexualitäten als etwas betrachtet wurden, für das man wissenschaftliche
Theorien diskutierte, um sie auszuschalten, zu vermeiden oder zu bestrafen. Und so völlig
Vergangenheit ist das nun heute bei weitem nicht, denn: was heißt hier eigentlich
»Homosexualität«, wo liegen da die Grenzen und wo die der (allzu) vielbeschworenen »Toleranz«
mit ihrem »Identitäts«-Gequatsche? Übrigens: am Schluss sieht sich noch MILDENBERGER im Jahre
2002 (nicht 500 Jahre früher) genötigt, zu appellieren, plausible Theorien zum Ablauf der
Geschichte aus der Untersuchung konkreter Fallstudien, Biografien und fachübergreifender
Forschung zu folgern und: nicht umgekehrt. - Und so
scheint mit diesem groben Überflug zufällig eine Art
»Kulturgeschichte der Antihomosexualität« angerissen, deren einzelne Arbeiten eben mehr sagen
und bedeuten als daß sie bloße fachspezifische Beiträge zu ihren jeweiligen Wissenschaftsdisziplinen wären.
* weitere Literatur: Schriftenreihe »forum homosexualität« (hrsg. vom forum homosexualität + geschichte münchen e.V., www.forum-muenchen.de)
Berlin / 15. August 2002
zu ESSAY siehe auch
junge welt 26. August 2002
Selbstschussanlagen bis Neoprüderie
(in "Schwulsein 2000" hsg. v. Dr. Günther Grau)
CHRONOLOGIE DER DDR-SCHWULENBEWEGUNG : www.olafbruehl.de/chronik.htm